Werkstätten für Menschen mit Behinderung – oder kurz: WTF?
Das Thema Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfMB) ist ein kontroverses. Das wissen nicht alle, immer noch viel zu wenige, aber immer mehr – und wir ganz sicher. Denn wir arbeiten mit einer zusammen.
Komplex, problematisch, WFMB
Ihr merkt dann vielleicht bereits: Allein den Ist-Zustand und seine Hintergründe darzustellen, ist ziemlich komplex und umfangreich. Es geht um:
- das systemische Problem und die veralteten Strukturen der Wohlfahrtsverbände (die größtenteils die Träger von WfMB sind), aufgrund derer Menschen mit Beeinträchtigung eine Teilhabe am Arbeitsmarkt odt erschwert wird.
- Inklusion als inflationär gebrauchtes und paradoxes Buzzword, siehe Social Washing.
- die wirtschaftliche Ausbeutung der Betroffenen in der Realität (Stichwort Mindestlohn).
- das lahmende Bundesteilhabegesetz.
- die Tatsache, dass Unternehmen sich für nen Appel und ‘n Ei, man nennt es auch Ausgleichsabgaben, von der Pflicht freikaufen können, Menschen mit Behinderung einzustellen.
- die Unzulänglichkeit und Unzugänglichkeit des sogenannten ersten Arbeitsmarktes
- und. so. weiter.
Behindern WfMB die Inklusion?
Allen, die jetzt denken: Wow wow wow, das klingt mega kompliziert – wo soll man denn da anfangen!! sagen wir:
Willkommen im Club.
Uns ist es, obwohl eine ausreichende Darstellung der Gesamtproblematik unsere Fähigkeiten übersteigt, trotzdem wichtig zu kommunizieren: Wir nehmen den möglichen Vorwurf des Social Washings sehr ernst – und stehen trotzdem hinter unserer Entscheidung, unsere Spandauer Werkstatt weiterhin mit dem Bau unserer Betten zu beauftragen.
Huä?
Es liegt zunächst verständlicherweise auf der Hand, uns als Auftraggeber einer solchen Einrichtung nahezulegen, das faule System nicht weiter zu befeuern und unsere Aufträge anderweitig zu vergeben. Und wir sehen das, wenn es um die Unbeflecktheit unserer weißen Marketingweste als ganzheitlich nachhaltiges und gemeinwohlorientiertes, hippes Berliner Start-Up geht, auch zunächst ein – einfacher und eindeutiger wäre es mit Sicherheit.
Wie in vielen Lebenslagen finden wir es aber wichtig, vor ambivalenten Angelegenheiten wie dieser den Kopf nicht einzuziehen.
Kiezbett und WfMB's
Die Sache ist die:
- Die Betroffenen leben im Jetzt und Heute, inklusive abgefuckter Arbeitsmarktsituation. Uns geht es darum, dort, wo wir positiven Einfluss nehmen können – auch wenn es nur diese eine Werkstatt und ihre Mitarbeiter sind – dies auch zu tun. Hierfür können wir, auch wenn es gern als Phrase abgetan wird, mit Fug und Recht behaupten: Arbeit und Betreuung sind dort außerordentlich gut. Die Werkstattleitung legt großen Wert darauf, dass den extrem individuellen Fähigkeiten und Bedürfnissen der Beschäftigten Rechnung getragen wird. Und ja, alle, mit denen wir gesprochen haben, arbeiten gerne dort. Wenn wir also sagen, dass wir hinter unserer Entscheidung stehen, dann weil wir das für unseren Fall tun.
- Nur mal angenommen: Wenn wir von heute auf morgen unseren Auftrag zurückziehen und an eine konventionelle Tischlerei vergeben würden, hätten wir damit das System leider nicht boykottiert. Denn davon könnten wir nur sprechen, wenn dadurch irgendein Druck nach oben aufgebaut würde. Der nächste Auftraggeber und damit das Wasser auf die Mühlen wäre allerdings sehr sicher schnell gefunden. Is leider so.
- “Jaja, schön zurecht gelegt habt ihr euch das. Ihr spart doch einen Haufen Geld mit denen.” Naja, also: ja, unsere Kosten sind möglichweise geringer, als wenn wir unsere Betten über einen Großauftrag an eine konventionelle Tischlerei vergeben würden. Wir haben das ehrlich gesagt noch nie verglichen. In der Entstehungsphase von Kiezbett ging es darum, so ökologisch und sozial wie möglich zu produzieren. Deswegen war unsere Idee von Stunde 0, den Auftrag in eine WfMB zu geben – nicht zuletzt weil Menschen in unserem Team arbeiten, die selbst als Mitarbeiter solcher Einrichtungen gute Erfahrungen damit gemacht haben. Wir betrachten es so, dass wir Teil davon sind, den Menschen dort eine abwechslungsreiche, tagesstrukturierende und wertige Tätigkeit zu bieten. Das kann man sicher immer noch kritisieren, aber wir sehen für dort einen positiven Unterschied für die Beschäftigten und ihren Alltag.
Der Traum von echter Inklusion
Zusammenfassend ist unser Statement also: Insbesondere im Kontext der (zu Recht) sehr hitzig diskutierten Arbeitsmarktsituation für Menschen mit Behinderung in Deutschland legen wir besonderes Augenmerk darauf, dass den Beschäftigten unserer Werkstatt unter den gegebenen Umständen ein würdiges und lebenswertes Betreuungsumfeld geboten wird. In den Stephanus Werkstätten haben wir eine Einrichtung gefunden, die aus unserer Sicht für alle Beschäftigten das Meiste aus dem Ist-Zustand herausholt.
Wenn wir in der Debatte ein paar Wünsche frei hätten, wären es, beginnend mit der niedrigsten zu höchsten Wahrscheinlichkeit ihrer zeitnahen Erfüllung, die folgenden:
- Ein Arbeitsmarkt, der Menschen mit Beeinträchtigung die gleiche, individuelle Wertschätzung entgegenbringt, wie jedem anderen auch (Hm, naja, anderes Thema …). Auch rechtlich. Auch finanziell.
- Mehr Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderung und ihrer arbeitsmarktpolitischen Diskriminierung.
- Unternehmen, die repräsentativ für den sogenannten ersten Arbeitsmarkt ihre gesamtgesellschaftlichen Verantwortung anerkennen, Stellung beziehen und Menschen mit Behinderung ihre Türen öffnen.
Immerhin Letzteres können und gehen wir aktuell an. Mit diesem Artikel, mit unserem Pledge bei Inklupreneur und mit der Hoffnung, dadurch für die Zukunft zu einem positiven Wandel beitragen zu können.